Mensch sein - ohne Arbeit?
Haltungen erwerbsbtätiger Menschen zu Erwerbslosen in Jena (2010)

Vorwort

In Jena sind im Vergleich mit anderen ostdeutschen Städten weniger Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen. Die offizielle Quote lag im April 2010 bei 8,3%. Jedoch sind mehr als zwei Drittel der ca. 4300 gemeldeten Arbeitslosen länger als ein Jahr erwerbslos und damit Hartz- IV-Empfänger. Insgesamt sind etwa 10.000 Jenaer Bürgerinnen und Bürger auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen, darunter etwa 2500 Kinder und Jugendliche bis 15 Jahre. Dabei sind immer mehr Menschen gar nicht arbeitslos, sondern erhalten ergänzende Leistungen, weil ihr Lohn nicht existenzsichernd ist.
Im Juni 2005 gründete sich der Verein "Menschen ohne bezahlte Beschäftigung - Hilfe und Selbsthilfe e.V." Erklärtes Ziel war es, arbeitslosen und in Not geratenen Menschen zu helfen und sie zur Selbsthilfe zu befähigen. Gab es zunächst nur eine Kontakt- und Anlaufstelle für ALG II - Empfänger, kamen im Lauf der nächsten Jahre verschiedene soziale und kulturelle Projekte hinzu.
Bei ihrer Arbeit sind die Vereinsmitglieder immer wieder mit Vorurteilen gegenüber Arbeitslosen konfrontiert. Häufig werden diese jedoch nicht offen geäußert, sondern sind lediglich im Verhalten sowie in getroffenen Entscheidungen zu spüren.
Es stellt sich deshalb die Frage, welches Bild vom Arbeitslosen existiert und von welchen Faktoren es beeinflusst wird. Inwieweit stimmt zum Beispiel das Bild vom Arbeitslosen mit dem von einigen Medien verbreiteten überein? Welche Unterschiede gibt es?
Was wissen Menschen, die nie von Arbeitslosigkeit betroffen waren, von der Hartz-IV- Gesetzgebung? Wird die Haltung zu Arbeitslosen von der Tatsache beeinflusst, ob man selbst schon einmal arbeitslos war oder davon, wie groß die Angst davor ist, selbst arbeitslos zu werden? Nicht weniger wichtig ist die Frage, wie sich nach Meinung der Bürgerin / des Bürgers Arbeitslose verhalten sollen, insbesondere dann, wenn ihre Chancen auf dem regulären Arbeitsmarkt infolge Alters, gesundheitlicher Beeinträchtigungen oder nicht mehr zeitgemäßer beruflicher Qualifikation als gering eingeschätzt werden müssen. Sollen sie beispielsweise ihre ganze Kraft darauf richten, eine Arbeit zu finden? Gilt die These: jede Arbeit ist besser als keine? Welche Alternativen sind möglich?
Die Idee, aus diesen Fragen heraus ein Projekt zu entwickeln, kam mit der Veröffentlichung der Studie von Prof. Wilhelm Heitmeyer. Unter seiner Leitung wird seit 2002 eine Langzeituntersuchung über "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" durchgeführt. In der Befragung des Jahres 2007 wurde festgestellt, dass 56% der Deutschen Langzeitarbeitslosen feindselig oder abwertend gegenüber stehen.
Wir wandten uns an das Institut für Soziologie der Universität Jena und wurden im Lehrstuhl Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftsoziologie sehr freundlich empfangen, hatte es doch bereits früher Kontakte zum MobB e.V. gegeben. Da Professor Klaus Dörre und seine MitarbeiterInnen auch empirische Untersuchungen zu den Folgen des Hartz IV-Gesetzes durchführen, hatten sie auch Mitglieder des Vereins interviewt. Unterstützung wurde zugesagt und wir beantragten bei der Stadt ein Projekt beim "Fond für politische Bildung". Der Fond war 2008 eingerichtet worden, um Projekte zu fördern, die der "Anerkennung und dem Verständnis der Heterogenität des Menschen in Ethnie, Alter, Behinderung, sexueller Orientierung, Religion, Lebensstil und sozialem Status dienen".
Dazu sollte auch unser Projekt beitragen. Über Interviews wollten wir die Haltungen Jenaer Bürgerinnen und Bürger zu Erwerbslosen erfragen. Diesen Fremdbildern sollten Eigenbilder erwerbsloser Menschen gegenübergestellt werden, um durch das Kennenlernen der Positionen zu Verständnis und Empathie zu gelangen und somit dazu beizutragen Vorurteile abzubauen.
Im Mai 2008 begann die Arbeit. Wir lernten Katharina Osthoff, damals Studentin am Institut für Soziologie, kennen, die an einer Magisterarbeit zum Thema "Haltungen Erwerbstätiger zu Erwerbslosen" arbeitete und uns bei der Arbeit unterstützen sollte.
Wir, das waren sechs Menschen, nicht alle erwerbslos, aber alle mit der Erfahrung der Lebenssituation Arbeitslosigkeit. Keine Erfahrungen hatten wir mit soziologischer Forschung. Wie konnten wir herausfinden, welche Haltungen berufstätige Menschen zu erwerbslosen haben? Auch die praktische Seite war uns zunächst unklar. Wie gestaltet man ein Interview, worin bestehen die Unterschiede zwischen quantitativen und qualitativen Befragungen und welche Bedeutung haben Statements?
Später konnten wir diese Fragen beantworten. Frau Osthoff erarbeitete mit uns einen Fragebogen. Neben ihrer Haltung zu Arbeitslosen sollten die Interviewten allgemein die politische und wirtschaftliche Situation in Deutschland einschätzen. Sie sollten über ihre Erwerbsbiographie befragt werden, um herausfinden zu können, ob und wie sich eigene Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit auf die Haltung zu Arbeitslosen auswirken. Der Fragebogen wurde mehrmals überarbeitet und enthielt schließlich mehr als vierzig Fragen. Wie sich später herausstellte, schafften wir es nicht alle Themen, die sich aus den Fragen ergaben, zu bearbeiten (siehe Nachwort).
Wer sollten unsere Interviewpartner sein? Wir beschlossen, zunächst Menschen aus unserem Bekanntenkreis zu befragen. Um Gefälligkeitsantworten zu verhindern, wurde in den meisten Fällen "getauscht", so dass sich Interviewer und Interviewter nicht kannten. Insgesamt wurden zehn Interviews geführt. Um die Anonymität zu wahren, haben wir die (ehemaligen) Kollegen, Bekannte und Freunde nach ihren Berufen bzw. ihren Tätigkeiten benannt. Uns antworteten: Die Ergebnisse der Befragungen sind daher nicht repräsentativ, ja sogar willkürlich - dennoch, wie wir hoffen - aufschlussreich und anregend. Zwei der Interviews (der Physiker und die Arzthelferin) liegen allerdings nur als Gedächtnisprotokolle vor, da die Aufnahmegräte, die wir zunächst beim Offenen Hörfunkkanal geliehen hatten, ihren Dienst versagten.
Die Mitarbeit im Projekt erfolgte auf ehrenamtlicher Basis, was sowohl die Durchführungen der Interviews als auch deren zeitaufwändige Verschriftlichung betrifft.
Zu Beginn des Projektes hatten wir uns mit Unterstützung von Dr. Michael Behr und Studierenden vom Institut für Soziologie mit Methoden der Auswertung qualitativer Interviews befasst. Frau Osthoff hatte uns die (wenigen) vorhandenen Studien vorgestellt, die es zum Thema "Haltung zu Arbeitslosen" gibt.
Spätestens, als Frau Osthof das Projekt verlassen musste, weil sie ihr Studium beendet und eine Arbeit aufgenommen hatte, wurde uns klar, dass aus uns keine Soziologen werden würden und wir einen anderen Zugang zu den Interviews benötigten. Schließlich nahmen wir die Texte als das, was sie für uns waren: Aussagen, die man interpretieren konnte.
Auch weil die Zeit voranschritt und das Ende der Förderung näher rückte, beschlossen wir, uns auf die Antworten einiger weniger Fragen zu beschränken. Diejenigen Fragen, die uns besonders wichtig erschienen und die auch in der Gruppe ausführlich und teilweise heftig diskutiert worden waren: zum Beispiel zu Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf das Leben eines Menschen, zur Rolle der Medien beim Bild der Arbeitslosen, oder auch zu den Aufgaben des Sozialstaates.
Die Kapitel zu einzelnen Themen wurden von den Mitgliedern der Projektgruppe verfasst und sind in ihrem Aufbau bewusst unterschiedlich gehalten - je nach Intention der Autorin oder des Autors.
In den Kapiteln werden die Aussagen unserer Interviewpartner zu den einzelnen Themen dargestellt. Es wird nach den Ursachen der jeweiligen Einstellungen und Überzeugungen gefragt und diese auch mit den Auffassungen der Projektgruppe verglichen. Aussagen und Schlussfolgerungen bleiben dabei individuell. Es geht nicht um Vorurteile, Vorwürfe oder ähnliches. Das Kennenlernen der unterschiedlichen Positionen soll Verständnis und Empathie ermöglichen und somit dazu beitragen Vorurteile abzubauen.
Den Einzeldarstellungen geht eine Einführung zu Ursachen und Wirkungen von Vorurteilen gegenüber Arbeitslosen voraus.
Im Anhang sind Ausschnitte aus den Interviews zu finden, geordnet nach Fragen bzw. Themen. So besteht die Möglichkeit, die in den einzelnen Kapiteln aufgeführte Zitate im Zusammenhang wahrzunehmen. Dem folgt eine Leiste der wichtigsten Fragen des Interviews.

Wir möchten uns an dieser Stelle ganz herzlich bei den Menschen bedanken, die uns ihre Zeit für die Interviews geschenkt und geduldig auf alle unsere Fragen geantwortet haben.
Unser Dank gilt Prof. Klaus Dörre, Dr. Michal Behr und Katherina Osthoff vom Institut für Soziologie der Universität Jena und der Stadt Jena für die finanzielle Unterstützung, wodurch die Durchführung des Projektes und der Druck dieses Buches erst möglich wurden.

Jena, im Juni 2010

"Mensch sein - ohne Arbeit" (pdf, 1,3 Mb)

Das Projekt (2008-2010)